„Im Ruhegebet erfahre ich, dass Gott auf sehr konkrete, persönliche und feine Weise in seiner Schöpfung, an den Mitmenschen und mir wirkt. Es schenkt tiefe Freude, beunruhigt aber auch im Guten, dass dadurch nach seinem Bilde und unter seinem liebenden Blick Erneuerung und Verwandlung geschehen kann, die sich im Alltag vollzieht und zu bewähren hat.“

Patrick Oetterer, Diakon
Begleiter im Ruhegebet

Das Ruhegebet – Fragen und Antworten

Erster Teil

5. Psychologie der Wüstenväter

Verbreitung des Ruhegebetes

„Warum war Johannes Cassian, dessen Name mir zum ers­ten Mal zusammen mit dem Ruhegebet begegnete, so sehr daran gelegen, gerade diese Gebetsweise detailliert aufzu­schreiben und zu verbreiten?“

 

Das tiefste Anliegen Cassians (360–435) ist es, dass der Betende in allem und durch alles in seinem Leben eine Begegnung mit dem Schöpfer erfährt, dem Urgrund allen Seins, mit Gott, der die Liebe ist. Durch das wohl einfachste Gebet möchte Cassian seine Schüler in eine Weite des Bewusstseins führen, in der jede Wahrnehmung zu einer Gottesbegegnung wird. Wie Cassian in seiner Zeit durch seine gelebte Spiritualität und seine Werke, die Wissen und Erfahrung verbinden, für viele ein großer Anstoß war, so dürfte auch heute sein Ruhegebet eine Herausforderung sein, aus der Grauzone, der Routine des Alltags und der Mittelmäßigkeit des Glaubens herauszutreten, um Entgrenzung zu erfahren.
Im Sinne von Cassian bedeutet Beten, alles aufzugeben: Gedanken, Gottesbilder, Vorstellungen, den eigenen Willen … Gott darf nicht irgendwie vorgestellt oder vor Augen geführt werden. Es geht um ein völlig bildloses Anschauen – »mit den reinen Blicken der Seele«. Cassian beschreibt genau die Methode dieses Gebetes. Ein Wort oder ein kurzer Satz werden als Mittel benutzt, die nötige Stille zu erlangen. Die Fülle der Gedanken wird durch die strenge Armut eines einzigen Verses mehr und mehr reduziert. Dieser Prozess tiefer Ruhe für Körper, Geist und Seele reinigt das Nervensystem und die Psyche. Er führt somit letztlich zur Reinheit des Herzens, von der Jesus in der Bergpredigt spricht. Durch die Übung des Ruhegebetes wird die Reinheit des Herzens zu einem andauernden Zustand, der einen entscheidenden Wendepunkt auf dem spirituellen Weg des Christen darstellt. Das Ruhegebet vermittelt intuitive Erkenntnis der Einfachheit und führt letztlich zu einem erfahrungsmäßigen Wissen um Gott. Cassian hat im Ruhegebet das gefunden, wonach er viele Jahre gesucht hat: eine Gebetsweise, bei der Erfahrung und Wissen Hand in Hand gehen.
Wenn aller »Besitz« aufgegeben und alles losgelassen wird, dann steht der Betende in absoluter Einfachheit vor Gott. Der Geist kann in der strengen Armut einer kurzen Anrufung schwingen, bis jener Glückszustand erreicht ist, den das Evangelium »selig« nennt. So ist die erste Seligpreisung zu verstehen: Selig, die arm sind im Geist; denn ihnen gehört das Himmelreich (Matthäus 20 5,3).

Auszug aus dem Buch „Ruhegebet – Fragen und Antworten“
von Pfarrer Dr. Peter Dyckhoff

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